Authentisch reisen: Alles bloss Quatsch?

10 min
Authentisch reisen

Wie authentisch können Reisen sein?

Wir reisen, um Vorurteile abzubauen. Um uns selbst davon zu überzeugen, das wir mit unserem selbstkreierten Bild über eine Kultur und ein Land falsch liegen. Endlich feststellen können, dass all die Geschichten nicht stimmen und die Menschen vor Ort völlig anders sind.

Doch was erlauben wir uns eigentlich dabei? Behaupten wir wirklich, ein Land und eine Kultur nach ein paar wenigen Tagen oder Wochen wirklich zu kennen? Können wir wirklich so schnell alle Vorurteile beseitigen und sie als falsch erklären?

Das vermittelte Bild

Sobald wir von unseren letzten Reise zurückkommen, schwärmen wir auch bereits in wunderschönen Erinnerungen an die gute Zeit. Wie schön es doch gewesen ist.

Die Menschen waren alle sooo lieb und extrem freundlich. Alle waren super hilfsbereit und man wurde liebevoll behandelt.

All die Urteile? Nee, die stimmen überhaupt nicht. Und wenn du nicht selbst vor Ort warst, wirst du das auch nie verstehen können. Du musst eben dein Weltbild verändern und mehr reisen.

Kommt dir das bekannt vor? Worte, die ich schon mehrmals gesagt habe. Und Worte, die ich andere sagen höre.

Doch sind wir mal ehrlich.

Vorurteile kommen nicht von ungefähr. Nehmen wir mal meine geliebte Heimat Schweiz als Beispiel.

Die Reisenden, die hier eine unglaublich schöne Zeit verbringen, erzählen dann in der Heimat wie furchtbar nett die Menschen waren. Was für schmackhaften Käsefondue oder Raclette sie gegessen haben um das Ganze am Schluss noch mit feinster Schweizer Schokolade zu versüssen.

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Am anderen Tag gingen sie auf die Wanderung in den atemberaubenden Alpen, sahen die vielen Kühe. Um den Anblick noch etwas intensiver wahrnehmen zu können, legten sich ins Gras, quetschten sich einen Grashalm in den Mund, schaute gespannt dem Fahnenschwingen zu und hörten dabei den fast schon hypnotisierenden Kuhglocken zu.

Nach dem Sonnenuntergang gab es beim Bauer in der Hütte noch ein heimisches Abendessen mit einer leckeren Fleischplatte, vollgefüllt mit feinstem Schweizer Fleisch und gutem Wein.

Beim Anblick auf die neue Schweizer Uhr wurde in später Stunde festgestellt, dass es auch schon Zeit fürs Bettchen wurde.

Was für ein Traumhafter Aufenthalt, oder?

PS: Ja, in der Schweiz beendet man viel zu viele Sätze mit einem “oder”. 

Die Wahrheit der Lüge

Und nun zurück in die Realität.

Das uns vermittelte Bild auf Reisen ist nicht das wahre Bild. Es ist nicht die Welt der Einheimischen vor Ort.

Der Reisende, der für ein paar Tage oder Wochen die Schweiz entdeckt, hat keine Ahnung, welches Arbeitsvölkchen wir hier sind und sein müssen. Wir müssen nunmal sehr viel zur Wirtschaft beitragen, um in ihr auch existieren zu können.  Hier alles so viel teuerer als beim grossen Bruder Deutschland, dass am Ende vom Monat in etwa das gleiche auf dem Konto bleibt. Auch haben wir im Vergleich ziemlich wenig Ferientage zur Verfügung.

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Das ist als Reisesüchtiger ziemlich suboptimal.

Der Reisende weiss nicht, dass:

  • wir ebenfalls in Grossstädten unsere Problembezirke haben.
  • sich manche Menschen in der Gesellschaft nicht willkommen fühlen.
  • wir uns wegen den teueren Lebenskosten auch nicht alle eine superteure “Swiss Made” Uhr leisten können.
  • wir gar nicht mal so viel Käse und Schokolade essen können, wie wir sie in all der Werbung präsentiert bekommen.
  • die Kuhglocken auch mal genug geläutet haben und wir sie nicht mehr hören können.
  • die meisten Einheimischen die Schweiz im Alltag anders erleben, als der Tourist auf der Suche nach authentischem Reisen.

Versteh mich nicht falsch! Ich liebe die Schweiz! In diesem Land leben zu können ist ein Geschenk und ich weiss es jeden Tag zu schätzen. Meine geliebte Heimat dient nur als Beispiel, weil ich hier lebe und das Land anders erlebe, als jeder Tourist oder Reisende es jemals tun wird.

Thailand ist mehr als Elefanten und wunderschöne Strände. Hier herrscht oft Armut.

Brasilien ist mehr als Samba und Caipirinha. Kriminalität ist ebenfalls ein grosses Problem.

Italien ist mehr als Vespa, Pizza und Pasta. Korruption lässt grüssen.

Kroatien ist mehr als Dubrovnik, klares Meereswasser und Cevapcici. Der Krieg hat bis Heute seine Spuren hinterlassen.

Australien ist mehr als Kangaroo und Surfparadiese. Aborginers fühlen sich als Ureinwohner vom “neuen” Australien vertrieben und leben ziemlich im Abseits der Gesellschaft.

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USA ist mehr als Grossstadtleben und Multikulti. Noch Heute herrscht hier viel zu oft Rassismus und Ungleichheit in der Gesellschaft.

Malediven sind mehr als Urlaubsparadies und Palmen. Abseits von schönen Urlaubsorten leben die Einheimischen in keinem Paradies.

Hawaii ist mehr als Blumenketten und leichtes Leben. Auch hier fühlen sich die Ureinwohner nicht mehr als Teil der Gesellschaft. Ebenfalls Obdachlosigkeit ist hier kein Fremdwort.

Myanmar ist mehr als die traumhaften Ballonfahrten mit dem Heissluftballon. Die Unterdrückte Minderheiten sprechen für sich.

Deutschland ist mehr als Oktoberfest und Bratwurst. Problembezirke und Integrationswiderstand sind auch hier existent.

Die Länder, wie auch die Menschen sind extrem komplex. Zu sehr, um sich in wenigen  Tagen ein authentisches Bild machen zu können.

Authentisch reisen

Auf Fiji lernte ich die Einwohner auf eine ganz authentische Art kennen.

Kann Reisen authentisch sein?

Ist es überhaupt möglich ein Land zu bereisen und sich in einer kurzen Zeit ein authentisches Bild zu machen? Kann man in einer so kurzen Zeit wirklich die Menschen, wie auch die Kultur kennenlernen? Ein ganz klares:

Jain!

Selbst bei längeren Aufenthalten von mehreren Wochen oder wenigen Monaten ist es unglaublich schwierig ein Land und die Menschen dahinter wirklich kennen zu lernen. Auch in unserem Leben abseits von Reisen lernen wir die Menschen erst nach längerer Zeit wirklich kennen. Wie komplex muss es dann erst mit einer fremden Kultur oder einem fremden Land sein!

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Und dennoch sind Reisen einer der schönsten Wege einen kurzen Einblick in eine fremde Kultur zu kriegen. Ein Hauch des echten, authentischen Leben der noch fremden Welt. Noch lange kennt man das Neue nicht wirklich. Viel zu kurz sind die Einblicke, um sich wirklich mit dem Alltag der Menschen beschäftigt zu haben. Doch ist es ein schöner Anfang um sich einzufühlen..

Persönlich werde ich niemals vergessen, wie ich am ersten Abend in Fidschi Downtown fast ausgeraubt wurde, um am Ende der Reise in einem der schönsten Hotels von Angestellten mit einer Blume im Haar begrüsst zu werden.

Und weisst du was? Ich bin froh, den ersten Abend in Downtown erlebt zu haben. Stell dir vor, ich wäre immer nur in einem perfekten Hotel gewesen. Man hätte mich von der Hauptinsel abgeholt und zu einer anderen kleineren Insel für Touristen mit dem Boot gefahren. Wie wäre mein Eindruck gewesen?

Ach, denen in Fidschi geht es super. Die leben richtig gut.

Alles, weil ich aufgrund dem letzten Hotel ein völlig kitschiges und falsches Bild vom Land bekommen hätte. Das Anfreunden mit Einheimischen Fidschianern führte mich in Sachen Authentizität noch viel näher an das echte Leben

Lektion für den Alltag

Jedes Land, jede Kultur, jeder Mensch hat Seiten an sich, das dem interessierten Neuen nicht sofort offenbart wird.

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Das ist so auch völlig in Ordnung, da sich nicht jeder damit beschäftigen möchte. Und derjenigen, der danach sucht, wird es auch finden.

Das Leben ist nicht so perfekte wie auch einer Postkarte und das ist grossartig! Genau das macht unsere vielfältige Welt so extrem spannend, bunt und einmalig.

Ich liebe diesen Planeten!

Was wir leider viel zu schnell vergessen, ist die Schönheit im Alltag zu suchen und zu finden.

Warum können wir nicht unsere Heimat mal durch die Augen der Reisenden sehen? Warum sehen wir so viel mehr, nur nicht das wunderschöne, wofür sich andere ins Flugzeug setzten?

Nichts ist perfekt. Vorurteile kommen, weil sie zutreffen. Auch wenn sie oft nicht repräsentativ sind.

Dennoch und gerade deshalb ist es wichtig, die wahre Schönheit im Alltag, wie auch auf Reisen in fremden Kulturen und Menschen zu finden. Und ständig sollte man im Hinterkopf behalten, dass kein Land dieser Welt so perfekt ist, wie es uns auf der Reise präsentiert wird.

Ein paar Tipps für eine möglichst authentische Reise:

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6 Comments

  1. 5. June 2017 / 13:48

    Schöner Beitrag und du hast recht damit. Es liegt aber auch an jedem selbst, wie er ein (Urlaubs) Land wahrnehmen möchte. Es gibt genug Menschen, denen reicht es 14 Tage oder drei Wochen Cluburlaub zu machen und ab und an eine Bustour zu den Sehenswürdigkeiten. Die sehen nicht die Müllhalden und verdreckten Flüße hinter den Zäunen ihrer 4 Sterne Anlage (und wollen es auch gar nicht sehen).

    Wir finden es schön, neben den Touristenattraktionen auch mal Geheimtipps von Einheimischen zu bekommen. Die bekommt man aber nur wenn man mit ihnen spricht. Man lernt aber auch viel von einem Land wenn man auf Reisen die Augen offen hält und schaut wie die Menschen leben, ihnen zuhört was sie einem zu sagen haben.

    • Igor
      Author
      6. June 2017 / 22:40

      Da kann ich dir nur zustimmen, Holger! Du hast absolut recht! Es ist jedem selbst überlassen, wie authentisch man reisen möchte. Persönlich finde ich es nur schade, wenn man sich von dem, was einem als Tourist präsentiert wird, blenden lässt. Da ist viel mehr dahinter. Schönes, wie auch weniger schönes. Mit Einheimischen in Kontakt zu kommen ist glaub ich die Krönung und vielleicht die beste Möglichkeit, mehr von der besuchten Destinationen zu sehen und zu lernen.

  2. 29. October 2017 / 7:42

    Super Kolumne. Es gibt einen großen Spalt zwischen der Selbstverständnis vieler Reisender als Weltentdecker und der Realität.

    Ich versuche seit Jahren Bangkok zu verstehen und kennenzulernen. Das ist eine einzige Stadt. Immer noch werde ich fast jede Woche überrascht.

    Trotzdem gibt es Reisende, die in weniger als ner Woche zum Bangkok-Versteher werden. Da schlackern mir die Ohren…

    Ich finde es in Asien allgemein schwer zu behaupten, ich habe irgendwas verstanden. Das geht schon wegen der Sprachbarriere nicht – Philippinen, Indien und Malaysia mal ausgenommen.

    Aber selbst in Lateinamerika, wo die Sprachbarriere etwas wegfällt, sind die kulturellen Unterschiede einfach sehr groß.

    • Igor
      Author
      29. October 2017 / 12:55

      Eine schöne Ergänzung, Florian. Einen Ort oder ein ganzes Land zu verstehen ist fast schon eine Sache der Unmöglichkeit. Dazu kommt noch unser persönliches Empfinden, was vielleicht jemand anders völlig unterschiedlich aufnehmen würde. Ein Experte in einer so kurzen Zeit kann man sicherlich nicht werden, höchstens reicht diese eine Woche um einen ganz, ganz groben Eindruck zu bekommen. Viel mehr dann auch wieder nicht. Die Welt ist einfach zu gross und zu unterschiedlich um sie jemals in ihrer ganzen Komplexität verstehen zu können.

  3. 24. March 2018 / 10:31

    Ein klasse Beitrag!

    Vorurteile kommen irgendwoher und ich bin der Meinung, sie wachsen nicht auf Bäumen. Es wird bereits Erfahrungswerte gegeben haben, auf denen die Vorurteile der Menschen einem Land oder einem Kulturkreis gegenüber basieren. Es ist wichtig, mit offenen Augen durch das Land zu reisen und bereit zu sein, auch die Schattenseiten zu sehen (und auch sehen zu wollen). Und es ist auch wichtig, gegebenenfalls seinen Eindruck zu korrigieren, wenn er sich als falsch herausstellt.

    Klar bekommen wir auf Reisen nur eine Randnotiz dessen mit, was ein Land ausmacht. Oft werden wir als Reisende mit großer Freundlichkeit empfangen und denken uns: Wie herzlich die Menschen hier doch sind! Sooo anders als bei uns… Wir übersehen aber, dass wir oft den Reisende-Bonus haben (wir sind neu, wir sind fremd, wir sind “Botschafter” aus Europa) und wollen nicht wahrhaben, dass das eventuell auch eine Rolle spielt. Auch die Tatsache, wohlhabender Europäer zu sein öffnet viele Türen. Klingt scheiße, ist oft aber so.

    Was bedeutet es, die Welt wirklich zu sehen? Alle sprechen davon, wie schlimm Vorurteile doch sind, doch keiner redet darüber, dass es noch eine andere Art des Vorurteils gibt: die des stets freundlich lächelnden Einheimischen, der uns in seine Hütte einlädt und uns die Spezialitäten seiner Landesküche kredenzt, der uns zeigt, wie glücklich er doch ist, obwohl er so wenig hat. Und das ist Balsam für unser übersättigtes Mitteleuropäer-Gemüt. Doch mal ehrlich…
    Wenn die Welt bloß so einfach wäre…

    Lg Kasia

    • Igor
      Author
      29. March 2018 / 12:45

      Vielen Dank, Kasia! Das Problem mit Vorurteilen ist bloss, dass es sehr oft auf nur einen kleinen Prozentsatz zutrifft, gerne aber die Mehrheit damit gemeint wird. Den Bonus als Europäer geniessen wir sicherlich auch in vielen Ländern dieser Welt. Doch auch innerhalb von unserem grossartigen Kontinent bekommen wir oft den Eindruck, dass es bei den anderen etwas besser ist, als in der eigenen Heimat. Ich denke, hierbei ist es oft aus dem Grund, weil man als Reisender etwas mit der rosaroten Brille auf Entdeckung geht. Es ist schwer die Welt wirklich und authentisch zu sehen, da uns halt im Alltag wie auf Reisen oft etwas vorgemacht wird. Ich denke schon, dass viele Menschen eingesehen haben, dass man auch mit weniger schlussendlich mehr haben kann. Dennoch blenden wir beim entdecken dieser Kulturen weitere Aspekte aus, weil wir uns vielleicht gar nicht wirklich damit beschäftigen möchten. Ein bisschen auch aus Egoismus vielleicht. So sehr wir auch versuchen, nicht in diese Muster zu verfallen. Ist aber menschlich.

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